Indien: Kinder gebadet in Yogaphilosophie
Zwischen bollywoodbunt und historisch verwurzelt: Kinderyoga in Indien
Eins der wohl gängigsten Stundenbilder in unseren heimischen Kinderyogastunden ist die klassische „Reise nach Indien“. Soll dieses Thema den Kindern doch die Bedeutsamkeit des Yoga für Indien und seine Wurzeln nahebringen. Ob indische Kinder wohl auch in ihren Yogastunden „nach Deutschland reisen“? Wie sieht Kinderyoga im Geburtsland des Yoga aus? Unsere Gastautorin Maike Schößler hat ein wenig für uns recherchiert.
Indien ist ein Land voller Gegensätze und Widersprüche: arm und reich, fortschrittlich und traditionell. Im Letzteren spiegelt sich auch die heutige Form des (Kinder-)Yoga. Die uns vertraute westliche Version besteht hier neben der historisch verwurzelten Variante: Jahrhundertealte Ashrams bestehen neben touristischen Fast-Food-Yogalehrer-Ausbildungs-Tempeln. Bollywood-bunte Kinderyogastudios finden sich neben schlichten Schulen, in der disziplinierte Achtjährige mit 100 anderen Kindern Asanas praktizieren. Im indischen Alltag ist Yoga fest integriert: Niemanden wundert es, wenn auf einer Bank mitten in Dehli eine Inderin ihre Atemübungen vollzieht oder sich 50 Menschen im Park die Bäuche beim Lachyoga krümmen. Es gibt Universitäten, an denen man sein Yoga-Diplom absolvieren kann und einen Staatsminister für Yoga.
Das Verhältnis Lehrer und Schüler
Diese Selbstverständlichkeit ist in der jahrhundertealten Geschichte verankert, in der schon Kinder mit Yogaunterricht aufgewachsen sind. Wobei der Fokus beim Praktizieren weniger auf körperlichen Asanas liegt als auf der Vermittlung spirituellen Wissens. Bis zur Besetzung der Briten in der Kolonialzeit wurden die alten Texte der Upanishaden, Veden und der Bhagavad Gita ganz selbstverständlich gelehrt. Bis heute gibt es in Indien so genannte „Gurukulas“ (Sanskrit-Wort für „Schulen des traditionellen Wissens“), in denen Yoga und Meditation nach alter Tradition unterrichtet werden. Der Lehrer gilt als Vorbild, die Schüler beobachten respektvoll und lernen.
Die Problematik des Yoga-Tourismus
Und dann ist da noch die gegensätzliche Seite: Tradition trifft auf Tourismus. Yoga in indischen Großstädten und auf Goa ähnelt heute in vielen Teilen auch der westlichen Ausprägung, was indische Traditionalisten und die Bewahrer der yogischen Historie mit Sorge betrachten. Dieser Yoga-Tourismus ist nichts Neues. 1968 erhielt er Schwung durch den Besuch vierer Briten: Mit ihrem Aufenthalt im Chaurasi Kutia-Ashram sorgten die Beatles dafür, dass Rishikesh, ein – bis dahin beschaulicher Ort am Fuße des Himalaya-Gebirges – schlagartig weltweit bekannt wurde. Hier entstanden Großteile des erfolgreichen weißen Albums. Noch heute zieht es (außerhalb der Corona-Zeit) Besuchermassen in die „Yoga-Hauptstadt“ Rishikesh.
Die Väter des Yoga
Doch es gibt sie noch: die alten Schulen und Ashrams, die den ursprünglichen Yoga lehren und die alten Traditionen transportieren möchten, wie etwa die „Bihar School of Yoga“, die von Satyanandi Saraswati gegründet wurde oder das „K. Patthabi Jois Ashtanga Yoga Institute“ (KPJAYI) in Mysore. Letzteres leitet der Enkel von K. Patthabi Jois, der Asthanga-Yoga entwickelte und populär gemacht. Sharath Jois lernte als Siebenjähriger bei seinem berühmten Großvater. Dafür stand er täglich um 3:30 Uhr auf und machte sich auf den Weg zu ihm, um von ihm unterrichtet zu werden. Diese familiäre Weitergabe der yogischen Tradition und Übungstechniken von Generation zu Generation war nichts Seltenes in Indien. Besonders in Form von Eins-zu-Eins-Unterricht: Auch Patthabi Jois wurde von einem berühmten Yogameister unterrichtet: Sri Tirumalai Krishnamacharya ist bekannt als „Vater des modernen Yoga“. Er nahm zum einen Jois unter seine Fittiche, zum anderen B.K.S. Iyengar als auch T.K.V. Desikarachar, seinen Sohn.
Eben dieser T.K.V. Desikachar gilt als ein Pionier, der Yoga für Kinder und Jugendliche populär gemacht hat. 1976 gründete er das Zentrum KYM (Krishnamacharya Yoga Mandiram), in dem noch heute im ehrwürdigen Sinne unterrichtet wird.
Möchte man in das traditionelle Indien eintauchen, führt einen die Reise nach Varanasi, der spirituellen Hauptstadt. Laut hinduistischer Mythologie wurde sie von der Gottheit Shiva gegründet. Viele strenggläubige Hindus pilgern in die lebhafte Stadt im Norden Indiens, um ein Bad im Ganges zu nehmen. Morgens um 6 Uhr sieht man am Ufer Menschen, die rituelle Waschungen vollziehen oder Yoga praktizieren.
Eine Österreicherin in Varanasi
Einmal im Jahr kommt auch D.I. Rosemarie Wagner-Fliesser hierher. Die Österreicherin mit Yogastudio in Wien hat die Finanzierung einer Privatschule in Varanasi übernommen und ermöglicht behinderten und nicht behinderten Kindern sowohl eine schulische Ausbildung als auch Yogaunterricht. Bevor sich die studierte Diplom-Ingenieurin im Jahr 2006 der Schule angenommen hatte, gab es diesen hier nicht. Wagner-Fliesser ließ einen riesigen Saal bauen und organisierte eine Yogalehrerin, um den indischen Kindern Yoga zurückzubringen. Mittlerweile ist die Schule von 200 auf 500 Kinder gewachsen, die alle zwei Mal pro Woche Yoga auf dem Stundenplan haben.
„Dieser Yogaunterricht ist ein Riesenunterschied zu unseren westlichen Kinderyogastunden“, erzählt die Österreicherin. Rund 80 bis 100 Kinder kommen da zusammen. „Bei uns wäre das undenkbar, aber die Kinder haben hier so eine natürliche Disziplin, dass sie sich direkt in den Lotussitz setzen und ganz ruhig werden.“ Ein buntes themenbasiertes Stundenbild – Fehlanzeige. Die indischen Schülerinnen und Schüler zwischen vier und 18 Jahren werden wie Erwachsene altersentsprechend in den gängigen Asanas unterrichtet. Mantras und Mudren werden im Schulalltag integriert. „Die Kinder kommen auf die Welt und sind quasi gebadet in der Yogaphilosophie. Sie verfügen über ein so wunderbares Mitgefühl und eine Tiefe in der achtsamen Wahrnehmung“, sagt Rosemarie Wagner-Fliesser. „Wie sie gehen, wie sie stehen, wie sie Respekt den Älteren gegenüber haben, das alles passiert mit so einer Selbstverständlichkeit im schönsten Sinne.“ Die Österreicherin ist sich sicher, dass das mit der Jahrtausende alten yogischen Energie zusammenhängt. „Die Kinder haben Yoga einfach in sich.“
Blumenmandalas und Familienyoga für drei Generationen
Auch an anderen Schulen ist Yoga Bestandteil des Schulunterrichts. An der J. Krishnamurti-Schule in Chennai in Südindien ist Yoga ein Wahlfach, das in den höheren Klassen benotet wird. Und in allen staatlichen Schulen in der Region Haryana, nördlich von Delhi, befindet sich Yoga auf dem Lehrplan, so dass auch Kinder in ländlichen Regionen davon profitieren.
Unabhängig von den Schulen gibt es – ähnlich wie im europäischen Raum – eine Vielzahl Yogastudios, die Kinderyoga unterrichten. Hier werden schon die ganz Kleinen spielerisch an Yoga herangeführt. Die indischen Kinder legen Blumenmandalas, singen Mantras, erleben Yoga mit allen Sinnen. Auch „Family-Yogastunden“ finden sich in indischen Yogastudios. Einige weiten dieses Angebot sogar auf drei Generationen aus: Großeltern, Eltern und Enkel – gemeinsam auf der Yogamatte. Die Älteren sollen den Jüngeren als Vorbilder dienen und ihnen Disziplin und Wissen vorleben. Die Jüngeren sollen die Älteren an ihre inneren Kinder erinnern, an Leichtigkeit und Freude.
Und ob in Indien oder Europa – das Lachen, die Verbundenheit und das Glitzern in den Augen ist allen gleich. Nur, ob die Kinder auch ein Stundenbild „Deutschlandreise“ haben ist nicht bekannt. Möglich ist es.
>> Mehr Infos zum Projekt von Rosemarie Wagner-Fliesser gibt es unter www.charity-ashtangavienna.at