Inklusion – Mehr als nur eine Rampe?!
Unsere Chefredakteurin Andrea Helten hat zwar mal Pädagogik studiert. Aber „leider“ nur im Nebenfach und da war das Wort „Inklusion“ noch nicht gefunden. Durch ihre Karriere im Fernseh-Business ist sie überdies jahrzehntelang nicht mit Menschen mit Handicap in Berührung gekommen. Hier erzählt sie offen und ehrlich von ihrer langen Unwissenheit angesichts von Inklusion und Integration. Und wie sie langsam dazu lernte.
In der Rückschau ist es schon irre: Ich lebte offensichtlich jahrzehntelang in einer Blase. Nämlich in der Fernseh-Bubble. Vakuumiert und schön geschminkt. 16 Jahre lang waren die Medien meine berufliche Heimat. Und in diesen 16 Jahren erinnere ich mich an ein einziges Mal, an dem ich Kontakt zu einem Menschen mit Behinderung hatte. Es war bei MTV und wir bekamen in der Nachrichten-Redaktion einen neuen Praktikanten (das Musikfernsehen lebte von Praktikanten!): einen jungen Mann im Rollstuhl. Er sollte neben mir sitzen, da ich ihn einarbeiten würde. Und so wurde der Stuhl weggeschoben, sein Schreibtisch passend eingestellt. „Und wie kommt er ins Gebäude?“, fragten wir uns. Eine Rampe muss her! Gesagt, getan – und so wurde der Zwanzigjährige für sechs Monate ein fester Teil unserer Redaktion.
Seitdem war – und ich schreibe es hier und heute mit einem gewissen Unbehagen, mit einer Scham – für mich das Thema „Inklusion“ immer ein wenig gleichbedeutend mit „Eine Rampe muss her!“ Ok, ich könnte anbringen, dass in der Medienwelt der letzten Jahrzehnte Menschen mit Behinderung eher rar gesät waren. Von Diversität keine Spur. Dass mein Arbeitsumfeld größtenteils aus Menschen weit jünger als Dreißig bestand, machte es auch nicht besser. Ich könnte auch entschuldigend erklären, dass es den meisten Menschen in Deutschland womöglich genau so geht: Dass das Thema Inklusion und Integration für sie nicht wirklich greifbar ist, da schlicht und einfach die Berührungspunkte fehlen.
Seitdem ich Mutter bin und auch Kinderyoga unterrichte, hat sich das natürlich ein wenig geändert: In der inklusiven Grundschule gab es zwei, drei Kinder mit Trisomie 21. Und in den Kindergärten, in denen ich seit Jahren regelmäßig Yoga unterrichte, sind immer mal wieder Kids mit Handicap – mal mit Diabetes, mal mit anderen Einschränkungen.
Und dennoch kann ich nicht behaupten, mich sicher auf dem Terrain zu bewegen. Denn was heißt Inklusion überhaupt? Ist es viel mehr als eine Rampe, als Menschen im Rollstuhl und denen, die man ihre Beeinträchtigung ansieht?
Bei uns ums Eck gibt es eine Stiftung für Menschen mit Einschränkungen. Menschen mit Behinderungen leben dort, es gibt eine inklusive Grundschule, ein Seniorenheim. Und seit 2019 ein Café, in dem Menschen mit Behinderung arbeiten. Dies war für mich der Wendepunkt, denn teilweise kam ich dreimal die Woche zum Mittagessen hierher. Ich kam ins Gespräch mit den Angestellten und verstand auf einmal: Inklusion ist dann, wenn wir wirklich keinen Unterschied mehr machen. Weder durch Unwissenheit, noch durch Desinteresse, noch durch Mitleid. Wenn jeder wirklich gleich ist.
Dass Inklusion jedoch noch viel breiter ausgelegt werden muss, als nur die Differenzierung zwischen „behindert und nicht behindert“, das habe ich erst in den letzten Jahren verstanden. Doch noch immer ertappe ich mich selbst manchmal dabei, unnütze Attribute einfließen zu lassen, wenn ich über Menschen rede. Wenn ich über meinen grandiosen Zahnarzt spreche und nebenbei erwähne, dass er homosexuell ist. Wenn ich erzähle, dass ich wieder mit Mohammed spazieren gehe – und ergänze, dass das „der ehemalige syrische Geflüchtete“ ist, dem wir hier ein bisschen Starthilfe gegeben haben. Warum tue ich das? Was will ich genau erklären?
Erst wenn wir diese Attribute nicht mehr benötigen, ist echte Inklusion gelungen. Wenn niemand mehr diskriminiert wird. Egal, ob er Kippa oder Kreuz trägt, Rollstuhl oder Rolls Royce fährt, egal ob er auf Pitbulls steht oder auf Primeln, alt oder jung – und die Hautfarbe ist eh egal. Vielleicht braucht es da einfach noch eine kleine Rampe in meinem Kopf, die mir hilft, alles und jeden gleich sein zu lassen. Und vielleicht braucht auch dein Kopf manchmal eine Rampe? Ich plädiere für Rampen für uns alle!