Bahnfahrgedanken zum Buch des Lebens
In einigen Bundesländern hat die Schule längst begonnen. In anderen sind die Ferien in vollem Gange. Auch die Sommerpause der Redaktion dauert noch ein wenig an. Unsere Redakteurin Maike Schößler beschreibt auf einer Bahnfahrt, was sie in diesem Sommer besonders auf Trab hält und sie verrät eine Methode, wie man sich zentriert und zur Ruhe kommt.
Ich sitze vor einer leeren Seite. Rechts von mir rauscht die Mecklenburger Seenplatte vorbei. Der Geruch von gekochtem Ei und Kohlrabi fordert meine Bahnfahrt-Nase heraus. Diese Frühstückskombi ist mir ein Rätsel. Mein Blick schweift über ein goldblondes Stoppelfeld, das so groß ist, dass es mich ein Stück der Wegstrecke begleitet. Akkurat gepresste Heuballschnecken sehen aus wie Biskuitrollen und bezeugen, dass der Sommer in den Spätsommer wechselt. Ich grüble weiter über meinen Einstieg in diesen Artikel. In der Redaktionskonferenz vor Ferienbeginn habe ich angeboten, eine Geschichte über die Seiten des Sommers zu schreiben.
Hier sitze ich nun im ICE zwischen Schwerin und Hamburg, Ei und Kohlrabi, heimkehrend von einem rauschenden Hochzeitsfest an der Ostseeküste. Wenn jeder Sommertag eine Buchseite wäre, wäre dieses Kapitel gefüllt mit stürmischen Wolkenküssen, tränenschimmernden Augen und der zweibuchstabigen Überschrift „Ja“. Tag für Tag füllt sich das Buch des Lebens. Mit heiteren und traurigen Seiten, mit wilden und seichten. Mit an Jahreszeiten und Alter orientierten Ereignissen und Erlebnissen.
Schreiben ist Yoga
Als das Thema „Ein Sommer voller Geschichten“ in der Redaktionskonferenz vorgeschlagen wurde, musste ich schmunzeln. Denn meine Sommerferien sollte anders werden als die vergangenen. Denn welche Geschichte meine ist, weiß ich ganz genau – im Gegensatz zum Inhalt. Ich stecke in einem spannenden Buchprojekt. Die Eckdaten sind klar. Thema, Seitenzahl und Inhalt vorgegeben. Dieses Buch kam unverhofft und lässt mein Herz hüpfen. Mein Journalistenherz. Ich darf mich reintrüffeln, auf die Suche gehen, im vorgegebenen Rahmen graben. Geschichten über und von Menschen erzählen und aufs Papier bringen. Hinter jedem freigelegten Schatz wartet ein Abenteuer. Seiten, die beschrieben werden und sich langsam füllen.
Das mag ein bisschen kryptisch klingen, aber noch darf ich nicht zu viel erzählen. Für mich ist Schreiben dem (Kinder-)Yoga nicht unähnlich. Mit nur 26 Buchstaben entstehen Welten. Die Fantasie wird gekitzelt, die Sinne bedient. Loslassen ist das Zauberwort, sich treiben lassen ohne zu viel zu wollen. Den Anspruch an sich selber sollte man runterschrauben und sich mit anderen nicht vergleichen. Zulassen, um sich einzulassen ist der Schlüssel zum Wortfluss, denn um sinnesstiftende Sätze – gar Texte und Geschichten – zutage zu fördern, hilft es, nach innen zu blicken.
Kreatives Schreiben: Von der Hand aus dem Kopf
Mir hilft es auch, Texte mit der Hand zu schreiben. Um dieses gewaltige Buchprojekt zu stemmen und zentriert zu bleiben, habe ich nicht nur die Wechselatmung für mich wieder entdeckt, sondern auch die sogenannten Morgenseiten – eine Methode aus dem kreativen Schreiben.
Bei den Morgenseiten setze ich den Stift drei Seiten lang nicht ab. Manche Menschen präferieren es, eine Viertelstunde einfach drauf los zu schreiben. Erlaubt ist, was gefällt. Vor die Morgenseiten verbinde ich mich mit meiner Atmung und dann mit dem leeren Blatt Papier. Ich schreibe drauf los ohne Rücksicht auf den Duden.
Stoppt mein Gedankenfluss, schreibe ich genau dieses auf: „Ich weiß nicht, was ich schreiben soll“ oder ich wiederhole den Satz, den ich zuvor geschrieben habe. Am Anfang kann es sein, dass man sich komisch fühlt. Dranzubleiben hilft und alle Sinne mit einzubeziehen.
Die Welt zum Schwingen bringen
Die Geschwindigkeit der Gedanken passt sich dem Tempo der Handschrift an. Diffuse Gedanken und Gefühle werden in Worte gefasst. Je mehr Sätze die Seiten füllen, desto tiefer tauche ich hinab in den stillen Raum in mir selbst, wo ich mich und Worte finde. Ein roter Faden löst sich vom Alltagsknäuel und offenbart Sichtweisen und Lösungen.
Sich verbinden, loslassen um sich einzulassen und es dann zum Schwingen bringen – mit allen Sinnen entstehen so die schönsten Geschichten.
Es wird verdaut und verarbeitet – alles fließt.
Zeit und Raum treten in den Hintergrund.
Und sogar Ei- und Kohlrabigerüche im ICE.
Mein Blick fällt auf die beschriebene Seite. Eine mehr für dieses Portal. Bis ich die nächste dafür schreibe, kann ein bisschen dauern.
Bis dahin! Schwinge, lebe, schreibe!